Selekiver Mutismus – was ist das?
Warum schweigen mutistische Kinder im öffentlichen Raum, plappern jedoch fröhlich und viel im privaten Umfeld? Wie entsteht eine solche Störung? Was ist zu tun?
Selektiver Mutismus bei Kindern – also das wiederkehrende und oft hartnäckige Schweigen in sozialen Situationen wie Kindergarten und Schule – ist ein Phänomen, das zwar nicht alltäglich, jedoch immer wieder und vermehrt anzutreffen ist. Oft werden Eltern und Lehrpersonen vertröstet mit: «Das Kind ist halt ein wenig scheu.» «Es wird sich schon noch auswachsen.» Doch schweigt das Kind über mehr als zwei Monate in einer neuen, fremden Situation und kann es die Barriere zum Sprechen und Sich-Beteiligen nicht selbst überwinden – so weiss man heute – sollte eine frühzeitige fachliche Unterstützung und Beratung in Betracht gezogen werden. Denn hat sich das Kind erst einmal in der neuen, fremden Situation schweigend «eingerichtet», so findet es den Weg kaum wieder alleine heraus. Das kann auf die Dauer seine schulische Bildung, seine Beteiligung in sozialen Situationen und später auch sein berufliches Weiterkommen massiv stören. Das selektiv mutistische Kind verpasst so ein natürliches Hineinwachsen in die Gesellschaft – sowohl schulisch als auch sozial. Die grosse Chance für die möglichst rasche Überwindung der Störung besteht deshalb darin, so sagt die Forschung, mit therapeutischen Massnahmen nicht abzuwarten.
Eine direkte Ursache für selektiven Mutismus ist bisher nicht bekannt. Es werden aber psychologische Faktoren (z. B. persönliche Art, mit Problemen umzugehen, antrainiertes Verhalten, Einfluss des Elternhauses, einschneidende Lebensereignisse mit hohem Stresserleben u. a.), physiologische Faktoren (z. B. familiäre Veranlagung, Serotoninmangel im Hirnstoffwechsel, eine Hyperfunktion der Amygdala (Angstzentrum), u. a.) und soziale Faktoren (Migration, Mehrsprachigkeit) angenommen. Meist sind mehrere dieser Faktoren an der Sprechverweigerung beteiligt. Diese Kinder sind sehr oft wache, aufmerksame und wählerische Menschen. Sie spüren in einem besonderen Masse, dass die Sprache, ihr Erwerb und Gebrauch anspruchsvoll sind. Sich verständlich zu machen, auf Fragen zu antworten, mit fremden Menschen eigenständig Kontakte zu knüpfen ist anstrengend. Sprechen verlangt Selbstbewusstsein, keine Angst vor Abweisung oder Kritik, ist anfällig für Missverständnisse, entlarvt Unwissen und kann unter Umständen Anlass zur Blossstellung und Spott bieten. Kommunikation ist risikoreich! Dies insbesondere, wenn eine Sprachbeeinträchtigung vorliegt, was bei ca. der Hälfte der selektiv mutistischen Kindern zutrifft. Diese Kinder ziehen das Schweigen dem Reden oft vor, denn sie schämen sich für ihre andersgeartete Aussprache, ihren ungenügenden Wortschatz oder ihre grammatikalischen Fehler. Durch Schweigen glauben sie, ihre schwierige Situation überwinden und kontrollieren zu können.
Weitere Risikofaktoren für selektiven Mutismus sind Mehrsprachigkeit oder Migration. Auch hier ist der Anspruch gross, zwischen Situationen, Sprachen und Umgangsformen zu unterscheiden und «richtig» zu handeln. Für bestimmte Menschen ist der früh erlernte Umgang mit mehreren Sprachen und Kulturen ein grosser Gewinn – für manche, vor allem sensible und verletzliche Kinder, stellt Mehrsprachigkeit hingegen eine schier unüberwindbare Hürde dar. Angesichts dieser Herausforderungen wählt das selektiv mutistische Kind die für sich bestmögliche Strategie: Entweder, im besseren Fall, macht es mit, gestikuliert und verständigt sich schriftlich, aber schweigt. Oder, im schlechtesten Fall, «friert» es ein, meidet jeglichen (Blick-)Kontakt und jegliche Beteiligung am Geschehen, auch wenn es sich sehr dafür interessiert.
Je nach Fall und Ausprägung ist das Phänomen des selektiven Mutismus eine Aufgabe für die Psychotherapie und/oder die Sprachtherapie, evtl. mit Einbezug des Kinderarztes oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit der Fachleute ist jedoch besonders wichtig und gewinnbringend. Eine fundierte Abklärung und sorgfältige Diagnosestellung sind notwendig, um die richtigen Massnahmen zu planen und durchzuführen, und um den Eltern und Lehrpersonen durch Beratung und Begleitung zur Seite zu stehen. Durch eine methodenkombinierte therapeutische Begleitung wird es dem Kind möglich, Mut zum Sprechen zu finden.